#05
Valloton fragt Schoditsch -
Die Architekturfrage

Friedrich G. Valloton 
Mein lieber Schoditsch, Sie fotografieren seit 20 Jahren Architektur und beschäftigen sich vermutlich schon länger damit. Wie steht es um ihr Verhältnis zur Architektur der Gegenwart?

Rainer Schoditsch
Lassen Sie mich zunächst sagen: Ich bin auf diesem Gebiet Laie. Ich bin Fotograf, und ich bin kein Architekt. Ich äußere mich zur Architektur nur anderen Laien gegenüber, selten bis nie auch Architekten gegenüber, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Sie sind auch Laie, aber Nicht-Laien, also Architekten, werden das lesen, einige jedenfalls. Insofern muss ich ein wenig Acht geben.

Friedrich G. Valloton
Sie fürchten um Ihre Aufträge?

Rainer Schoditsch
Ich nehme keine Aufträge an. Ich nehme Vorschläge an. Wenn jemand möchte, dass ich fotografiere, dann nehme ich an, wenn es mich interessiert oder lehne dankend ab, wenn es mich nicht interessiert - natürlich unter Zuhilfenahme einer Ausrede. Wenn ich annehme, dann tue ich, was zu tun ist und was ich für richtig und gut erachte. Das Resultat zeige ich dann, und das kann der Vorschlagende dann gut finden und dafür bezahlen oder eben auch nicht. Ich finde das fair, abgesehen von den Ausreden.

Friedrich G. Valloton
Es birgt aber auch das theoretische Risiko, dass Sie nicht bezahlt werden.

Rainer Schoditsch
Das ist noch nicht passiert.

Friedrich G. Valloton
Also zurück zur Ausgangsfrage. Sie haben ja nichts zu verlieren.

Rainer Schoditsch
Mein Verhältnis zur Architektur der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart ist natürlich kompliziert. Die Architektur wird erdrückt von Normen, dem Profitstreben der Investoren, der Fantasielosigkeit und Ängstlichkeit der Bauherren und - last but not least - der Desillusioniertheit, bisweilen auch dem Unvermögen, mancher Architekten. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Friedrich G. Valloton
Was macht gute Architektur aus?

Rainer Schoditsch
Können, Sorgfalt, Wahrhaftigkeit, Tiefe.

Friedrich G. Valloton
Hm, das könnte man auch über ganz andere Disziplinen sagen.

Rainer Schoditsch
Und jede Architektur, die gedacht, geplant, gebaut wird, muss für die nächsten 100 Jahre Bestand haben. Ich denke, wir wissen beide, auch als Laien, wo wir mit dieser Forderung in der gebauten Realität gerade stehen. Die Frage ist auch, wozu überhaupt gebaut wird. Ich behaupte, es ist nur in Einzelfällen wirklich sinnvoll. Wir haben sehr viel ungenutzten Bestand.

Friedrich G. Valloton
Sanieren statt Bauen?

Rainer Schoditsch
Sanieren, adaptieren und aktivieren. Vergessen wir nicht, es gibt sehr viel Leerstand, der gar keiner Sanierung bedarf.

Friedrich G. Valloton
Investorenwohnungen. Das sogenannte Betongold.

Rainer Schoditsch
Grauenhaft, es wird einem richtig schlecht. Eine inhaltliche und formale Pervertierung der Sprache und der Lebensnotwendigkeiten. Es gibt in den Städten enorm viel Leerstand. Dieser besteht aus den von Ihnen genannten Kategorien und aus dem vergessenen Bestand, wie ich ihn nenne. Das sind Wohnungen, die niemanden interessieren und / oder nicht aktiviert werden können, weil die Besitzverhältnisse verworren sind und alles verunmöglichen. Ich kenne persönlich einige solche Fälle. Wohnungen in bester Lage, die seit Jahren leer stehen. Die Bewohner sind ausgezogen, das Kartoffelpüree steht noch im Küchenschrank.

Friedrich G. Valloton
Sie machen Witze.

Rainer Schoditsch
Keineswegs. Kommen Sie vorbei, ich kann Ihnen so etwas zeigen. Eine Wohnung, die aussieht, als wären deren Bewohner letzte Woche ausgezogen. Sie sind aber vor vier Jahren ausgezogen. Es ist als wäre die Zeit stehengeblieben. Sie werden staunen.

Friedrich G. Valloton
Das ist ja unglaublich.

Rainer Schoditsch
Ja, das ist es. Und doch ist das kein Einzelfall. Es gibt tausende leere Wohnungen, aus den verschiedensten Gründen.

Friedrich G. Valloton
Welche Bedeutung hat die Architektur für das Leben der Menschen?

Rainer Schoditsch
Die allergrößte natürlich. Sie kann erhebend sein, aber auch erdrückend, inspirierend oder abstumpfend, das Leben erleichtern oder erschweren.
Aber die allermeisten Menschen nehmen Architektur gar nicht bewusst wahr, obwohl sie deren tägliches Leben so sehr beeinflußt. Sie haben weder Kategorien noch Begriffe dafür. Sie arbeiten und wohnen in irgendwelchen Räumen mit Öffnungen in den Wänden. Sie fühlen sich wohl oder unwohl, aber sie schreiben das in der Regel nicht der Architektur zu. Die ist da und auch nicht, weil sie für sie gar nicht existiert. Das Gebaute ist für die allermeisten einfach da, und es ist wie es eben ist. Gottgegeben.

Friedrich G. Valloton
Es gibt also zu wenig Bewusstsein für das Wirken von Architektur?

Rainer Schoditsch
Es gibt Bewusstlosigkeit.

Friedrich G. Valloton
Die Architektenschaft ist eine Berufsgruppe, die in der breiten Bevölkerung im Ansehen gleichauf liegt mit Politikern, Immobilienmaklern, Journalisten und Gebrauchtwagenhändlern.

Rainer Schoditsch
Traurig ist das. Aber die genannten Berufsgruppen haben sich das auch selbst zuzuschreiben. Die Guten leiden natürlich unter den Schlechten.

Friedrich G. Valloton
Der Architekt gilt als eitler Künstler, der vom Bauen nichts versteht und dessen Ego größer ist, als jedes Bauwerk, das er je zu planen die Gelegenheit haben wird.

Rainer Schoditsch
Es ist wie in allen Berufsfeldern. Nicht jeder kann ein Genie sein. Mein Eindruck ist: Die nunmehr Alten wollten alle Genies sein. Jene, die als solche gelten, leben zufrieden und in Wohlstand, jene, die es nicht geschafft haben, in mehr oder weniger großer Verbitterung. Die Jungen funktionieren anders. Sie sind weniger eitel, Geniekult ist ihnen suspekt und sie arbeiten mehr und pragmatischer. Es gibt viele wirklich tolle und kluge Köpfe. Ein bißchen langweiliger vielleicht. Aber man kann nicht alles haben. 

Friedrich G. Valloton
Gut, dass sie nicht um Aufträge fürchten.

Rainer Schoditsch
Die Leute halten das schon aus. Ähnliches könnte man gewiss auch über Fotografen sagen oder jeden Kreativen. Nicht zuletzt auch über mich selbst.

Friedrich G. Valloton
Ihr Lieblingsarchitekt?

Rainer Schoditsch
Oh Gott! Zumthor vielleicht. Kahn, Schindler, Neutra. Und alle, die es in Armut und mit bloßen Händen verstanden, aus Lehm, Stein, Holz das sprichwörtliche Dach über den Köpfen ihrer Familien zu bauen.

Friedrich G. Valloton
Ihre Wünsche für das Bauen der Zukunft?

Rainer Schoditsch
Können, Sorgfalt, Wahrhaftigkeit, Tiefe. Und davor immer die Frage: Müssen wir wirklich bauen?